Wort zum Sonntag:

In der Wüste

Das erste Mal in der Wüste war ich auf Studienfahrt mit der Universität. Wir haben Ausgrabungen besucht im August bei 40 Grad im Schatten. Der Professor berichtete von alten Tonscherben und Felsbrocken, von Mosaiken und Gebäuderesten. Ich habe mir vor allem gemerkt, wie heiß es war. Die Klimaanlage im Bus funktionierte nicht richtig. Nach zehn Minuten klebte die Kleidung am Körper. Wir mussten viel Eis essen.

Trotzdem fasziniert mich die Wüste. Eigentlich nur Sand und gleichzeitig so viel mehr: ein Sehnsuchtsort. Die Wüste Negev in Israel, die Atacama in Südamerika, die Sahara in Afrika. Eine Reise in diese Wüsten offenbart atemberaubende Landschaften und bizarre Felsformationen. Tiere und Pflanzen müssen der Wüste das Leben abringen. Die Trockenheit, die Hitze, das mangelnde Wasser.

„Wie lang noch? Wie weit noch? Ich habe das Gefühl, im Kreis zu gehen.“ Solche Gedanken nenne ich Wüstenerfahrungen. Die können wir auch hier bei uns im Allgäu machen, ganz ohne Sand. „Wie lange muss ich das erdulden? Wann habe ich es geschafft? Ich komme nicht voran.“ Wüstenerfahrungen sind für mich die Durststrecken des Lebens, weil der Job keinen Spaß macht; weil sich Freunde nicht melden, weil Menschen in unserem Leben fehlen und wir das Ziel aus den Augen verlieren.

Die Israeliten haben 40 Jahre Wüstenerfahrung, davon erzählt die Bibel. Sie ziehen von Düne zu Düne, hungrig, durstig, verbittert, aber doch nicht allein. Gott ist bei ihnen. Als sie murren, versorgt er sie in der Wüste mit Essen und Trinken (Ex 16, 11-18). Sie bekommen neue Kraft für ihren Weg. Die Wüste wird zum Lebensraum.

Gott ist bei uns in unserer Wüste. Er versorgt uns, indem er uns nicht vergisst, sondern zuhört; indem er uns nicht weiterschickt, sondern ausruhen lässt; indem er uns nicht auf morgen vertröstet, sondern schon heute begleitet. Die Wüste ist auch ein Lebensraum, ein Sehnsuchtsort, eine Chance.

Pfarrer Tim Sonnemeyer, Christuskirche Kempten

Wort zum Sonntag in der Allgäuer Zeitung, 13./14. Juli 2024

 

Stark in der Schwäche

„Jeder hat sein Päckchen zu tragen.“ Dieser Satz begegnet mir häufig. So lässt manch einer einen kurzen Blick zu auf das, was schmerzlich ist in seinem Leben. Wir sagen diesen Satz, wenn überraschenderweise bei anderen etwas durchscheint von der Last des Lebens. Etwas, das vorher gut kaschiert war. Wir wollen nicht schwach sein, verletzlich, beschädigt. Die meisten von uns sind es aber. Früher oder später, mehr oder weniger. Wie gerne hätten wir, dass es anders wäre! Und nicht selten flehen wir darum zu Gott. Ähnlich erging es dem Apostel Paulus. Was hat er gebetet, dass Gott seine Schwäche, seine Einschränkungen von ihm nimmt! Vergeblich. Stattdessen hat er von Jesus eine überraschende Antwort auf seine Gebete bekommen: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ (2. Korinther 12,9)

Paulus erfährt: Gottes Kraft wirkt nicht trotz meiner Schwachheit. Sie wirkt in ihr, vielleicht gerade durch sie. Gottes Blick auf unsere Welt ist oft so anders als wir es vermuten. Das Schwachsein wird nicht beschönigt. Aber es kann wie eine Tür sein, durch die eine andere Kraft in uns Raum gewinnt. Göttliche Kraft. Ich erlebe, dass es, vereinfacht gesagt, zwei Richtungen gibt, in die uns das Erleben schwach zu sein, führen kann. Manche Menschen verhärten, verbittern und schützen so ihre Verletzlichkeit. Andere werden weicher, empfindsamer, auch für die Schwachheit anderer. Dankbarer für das, was gelingt. Empfänglicher für Schönheit und Glück. Eine Gnade! Mir kommt eine Liedzeile aus Leonhard Cohens Lied „Anthem“ in den Sinn: „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.“ (In allem ist ein Riss. So fällt das Licht hinein.) Was für ein schönes, was für ein tröstliches Bild! Die Risse in unserem Leben sind schmerzlich, ja. Aber sie können uns auch durchlässiger machen für Gottes Licht, für seine Liebe, für seine Kraft. Gott hat wohl eigene Ideen davon, was stark und was schwach ist. Jesus ist nicht gerade der Prototyp des starken, unverletzlichen Helden. Aber die Kraft seiner Liebe, die Kraft seiner Auferstehung gehören mit zum Stärksten, das die Welt gesehen hat. Jede und jeder von uns hat sein Päckchen zu tragen. Gott trägt mit.

Bleiben Sie behütet!

Ihre Pfarrerin Julia Cleve, Johanneskirche Kempten

Wort zum Sonntag in der Allgäuer Zeitung, 29./30. Juni 2024

 

Der Moment des Richtungswechsels

Ich weiß nicht, wie viel Mut es sie gekostet hat, mir zu erzählen, wie sie auf die schiefe Bahn geraten ist. Aber als die junge Frau, die mir gegenübersitzt, zu reden anfängt, scheint jegliche Hemmschwelle überwunden. Sie erzählt mir, wie sie mit dem Konsum von Drogen in Abhängigkeit geraten ist und dadurch ihre Arbeit, ihre Wohnung und schließlich auch den Kontakt zu ihrer Familie verloren hat.

Lange Zeit habe sie nicht wahrhaben wollen, dass sie ganz tief unten gelandet ist und dringend Hilfe braucht. Erst als ihr die Ärzte sagten, dass ihre Gesundheit am seidenen Faden hänge, habe sie begriffen, dass es höchste Zeit war, sich einer Therapie zu unterziehen.

Der Weg sei nicht einfach gewesen. Der harte Entzug, auch das Eingeständnis, große Fehler gemacht zu haben, hätten unendlich viel Kraft gekostet. Aber - und das sagt sie mit einem nicht zu übersehenden Strahlen in ihren Augen - die Therapiemaßnahmen seien erfolgreich gewesen und sie sei unendlich froh, den Absprung noch rechtzeitig geschafft zu haben.

Und dann ein kurzes Innehalten und ein veränderter Gesichtsausdruck. Ein ernster Zug, der deutlich macht: Da ist noch was. Und der mich auffordert danach zu fragen. Unter Tränen gesteht sie, dass bis dato nicht alles gut und so sei, wie sie es sich wünschen würde. Sie hätte so gern wieder Kontakt zu ihrer Familie. Aber der letzte Rauswurf habe sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben. Deshalb sei sie sich nicht sicher, wie die Familie reagieren würde, wenn sie wieder nach Hause kommen würde.

Mich erinnert dieser Ausschnitt aus der Lebensgeschichte einer jungen Frau an das Gleichnis in der Bibel vom verlorenen Sohn, das an diesem Sonntag ganz im Mittelpunkt steht.

Der jüngere Sohn wünscht sich eine Veränderung seiner Lebenssituation. Daher beschließt er, seine Familie zu verlassen und seine berufliche Aufgabe auf dem Hof seines Vaters aufzugeben und sich in der Fremde ein neues Leben aufzubauen. Doch bevor es dazu kommt, lässt er sich von den Verlockungen der Welt blenden. Mit seinem Erbe lebt er ein ausschweifendes Leben. So lange, bis er am Schluss alles verloren hat.

Doch dabei bleibt es nicht: Der Sohn, von dem in unserer Geschichte die Rede ist, kommt zur Besinnung. Er erinnert sich an das Zuhause, das er verlassen hat und an die Liebe seines Vaters. Er erkennt seine Fehler und kehrt zurück. Dieser Moment des Richtungswechsels ist entscheidend.

Kaum hat er vor dem Vater ausgesprochen, dass ihm sein Verhalten leidtut, da schließt ihn dieser auch schon voller Freude in seine offenen Arme.

Liebe Leserinnen und Leser, so wie der Vater in der Geschichte, so ist Gott. Er lässt uns in aller Freiheit unsere Wege gehen und dabei auch Fehler machen. Aber er will nicht, dass wir unterwegs verloren gehen. Er freut sich über jeden und jede von uns, die es wagt umzukehren. Und er geht uns entgegen und schließt uns bedingungslos in seine Arme. Was für eine Hoffnung inmitten aller Irrwege, die wir in unserem Leben immer wieder beschreiten.

Pfarrerin Jutta Schröppel (Koordination Suizidprävention und Seelsorge am BKH Kempten)

Wort zum Sonntag in der Allgäuer Zeitung, 15./16. Juni 2024

 

Was für ein Segen!

Jeden Sonntag hat er in unseren Kirchen das letzte Wort: Gottes Segen.

Nach dem Gottesdienst werden wir unter Gottes Segen in die Welt, in unseren Alltag, in unser Leben entlassen. Gottes Segen, viele von uns begleitet er unser Leben lang: Der Taufsegen als kleines Kind, der Trausegen bei der Hochzeit, die Segnung bei der Feier des Ehejubiläums, die Aussegnung nach Eintritt des Todes.

Segen – was ist das eigentlich?

Den ersten Reisesegen hat Gott Abraham auf seinem Weg ins gelobte Land mitgegeben: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein“.

Unter diesem Zuspruch sind Abraham und seine Frau Sarah mutig losgezogen, im großen Gottvertrauen, dass Gott mit dabei ist, bei jedem Schritt und dass er sie in eine gute Zukunft führt. Segen, das ist die Zusage einer guten Zukunft, eines erfüllten Lebens. Trotzdem läuft auch für Gesegnete nicht immer alles gut.

Abraham und Sarah mussten einen langen Weg durch die Wüste gehen. Da gab es Ärger, Streit und Konflikte, waren Gefahren zu bestehen. Da lief nicht alles rund und glatt. Segen ist keine magische Zauberformel für ein Leben ohne Schwierigkeiten. Auch wenn es sich auf den ersten Blick sehr verführerisch anhört, ein Leben immer auf der Sonnenseite, ohne Krisen - das wäre für mich, glaube ich, kein gutes Leben.

Wo wäre da Entwicklung, Wachsen und Reifen? Wo wären die Höhepunkte, wenn es keine Tiefpunkte gibt? Auch von Gott Gesegnete haben oft mit dem Leben zu kämpfen. Segen sagt und zeigt mir: Ich bin nicht allein unterwegs, nicht allein auf mich gestellt, nicht allein verantwortlich für mich und mein Leben.

Segen zeigt mir: Ich stehe in unverbrüchlicher Beziehung zu Gott, wenn es gut läuft und wenn es gerade schwierig ist, sowieso.

Wir stehen von der Wiege bis zur Bahre in Gottes Liebe und aus dieser fallen wir selbst nach dem Tod nicht heraus.

„Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein“- Dieser Doppellsatz ist für mich entscheidend. Wir stehen durch Gottes Segen in Beziehung mit ihm und mit unseren Mitmenschen, mit unserer Familie, Freunden, Kollegen, Nachbarn. Aber auch mit Fremden, aus unserem Land, aus anderen Ländern. Oft ist es uns gar nicht bewusst, aber wir sprechen uns schon in den kleinsten Begegnungen mit unseren Grußformeln Segensworte zu: „Grüß Gott“- ein wunderbarer Gruß, zur Erinnerung, dass wir in Beziehung, im Segen Gottes stehen, oder „Ade“ - „A Dieu“- Gott befohlen.

Umgeben von Gottes Liebe und solidarisch mit anderen, können wir gut unseren Weg durchs Leben gehen, wie Abraham und Sarah. Dabei führt auch unser Weg manchmal durch wüste Zeiten. Aber wir haben Gottes unverbrüchliche Zusage: Wir sind nicht allein! Gott geht mit. Er stellt uns Menschen zur Seite. Was für ein Segen!

Gott segne Sie!

Dekanin Dorothee Löser

Wort zum Sonntag in der Allgäuer Zeitung, 1./2. Juni 2024