Wort zum Sonntag

Evangelischer Hochmut kommt vor dem Fall

In meiner Familie gibt’s das nicht“, dachte ich als Teenager, wenn es um das Thema „Seitensprünge“ ging - bis ich erfuhr, dass mein Großvater eine Affäre hatte und dass meine Tante nur nicht geheiratet hat, weil sie selbst die Geliebte eines verheirateten Mannes war. Uns Kindern wurde etwas vorgespielt. Man redete erst darüber, als es gar nicht mehr zu verheimlichen war. Ich dachte, wir wären besser und zeigte mit dem Finger auf die anderen. Die Heimlichtuerei und der Umgang mit dem Thema haben mich verletzt. Es gab keinen Grund mehr, sich als eigene Familie besser zu fühlen als andere. Die Finger zeigten auf uns selbst. Wie habe ich mich für meinen Hochmut geschämt!

„In unserer Kirche gibt’s das so nicht“, dachten wir Evangelischen auch lange, wenn es um die Verbrechen der sexualisierten Gewalt ging. In viel schlimmerer Art und Weise erlebe ich gerade in meiner evangelischen Kirche den Umgang mit dieser Katastrophe. Wir haben oft gesagt, das Problem sexualisierter Gewalt sei vor allem ein Problem der katholischen Kirche. Bei uns sei alles viel besser. Wir hätten schließlich keinen Zölibat, und die männlichen Pfarrer hätten ja ihre Familien. Und gemeinsam regten wir uns über den Umgang der katholischen Kirche mit diesen Verbrechen auf. Hochmut kommt vor dem Fall! Die Finger zeigen auf uns selbst. Wie schäme ich mich für diesen Hochmut!

Schande über uns, dass Menschen missbraucht wurden, die uns vertrauten! Schande über uns, dass man ihnen nicht zugehört hat und eher den fast ausschließlich männlichen Tätern geglaubt hat! Schande über uns, dass man die Opfer noch einmal getreten hat, indem man die Aufarbeitung aus fadenscheinigen Gründen ausgebremst hat! Kosten und mangelndes Personal sind fadenscheinige Gründe! Dann müssen wir eben den Gürtel enger schnallen, Gelder und Personal umverteilen! Wir sind die Tempeldiener und Priester, die am unter die Räuber geratenen Menschen vorbeigehen und auf den barmherzigen Samariter spekulieren! Und Schande über uns, dass die Opfer noch einmal geschlagen werden, indem sie hingehalten werden und um ihre Entschädigung kämpfen müssen! Unser Chef Jesus sagt dazu: „Wer aber einen dieser kleinen, unbedeutenden Menschen, die mir vertrauen, zu Fall bringt, für den wäre es noch das Beste, mit einem Mühlstein um den Hals ins tiefe Meer geworfen zu werden.“ (Matthäus 18,6)

Und am Sonntag singen wir wieder unsere Lieder. Gott sagt im Predigttext für den Sonntag dazu: „Ich hasse eure Feiern, geradezu widerwärtig sind sie mir, eure Opferfeste verabscheue ich … Eure lauten Lieder kann ich nicht mehr hören, verschont mich mit eurem Harfengeklimper. Setzt euch lieber für die Gerechtigkeit ein! Das Recht soll das Land durchströmen wie ein nie versiegender Fluss.“ (Amos 4,21-24) Tut nicht fromm, sondern seid es!

In was für einer Kirche bin ich denn, dass sogar Gott selbst gegen uns ist! Ich erlebe uns als unbußfertig. Buße heißt, die Konsequenzen tragen: Und wenn es unserer Kirche den letzten Cent und meine Pension kostet, und wenn es uns das letzte bisschen Ansehen kostet: Wir müssen uns für Gerechtigkeit für die Opfer einsetzen und weitere Opfer verhindern! Mir geht es nicht um mein Ansehen als Pfarrer. Ich bin kurz davor, meinen Beruf an den Nagel zu hängen, so schäme ich mich. Unser Ruf ist mir egal. Mir geht es um die Opfer! Jedes Opfer der Heuchelei ist eines zu viel! Was fordert Gott von uns? Demut, Bescheidenheit, Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Armut! Das verlangen Gott und die Menschen zu Recht von uns Kirchenmännern! Nur um das zu leben bleibe ich in meiner Kirche.

Pfarrer Hartmut Babucke (Johanneskirche Kempten / Buchenberg)

Wort zum Sonntag in der Allgäuer Zeitung, 10./11. Febraur 2024

 

 

Nicht stehen bleiben

Heute ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus - seit 1996 ein bundesweiter, gesetzlich verankerter Gedenktag. Er ist als Jahrestag bezogen auf den 27. Januar 1945, den Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und der beiden anderen Konzentrationslager Auschwitz gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Der damalige Bundespräsident Roman Herzog sagte bei der Proklamation dieses Tages: „Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“ Die bundesweiten Proteste gegen Rechts sind für mich Ausdruck dieser geforderten Wachsamkeit und ein starkes Signal gegen Rechtsextremismus und für ein demokratisches Miteinander.

Dieses wache Hinschauen, was in unserer Gesellschaft im Blick auf Asyl-Suchende, Flüchtlinge, Menschen mit Migrationshintergrund gedacht, gesagt und getan wird, ist der erste, wichtige Schritt. Auf den dann das Eintreten für sie folgt: Ich stehe für sie ein: in meinen persönlichen Kontakten oder öffentlich bei Kundgebungen und Demonstrationen. Weil sie - wie ich - Teil der Familie Mensch sind. „Von außen sind alle so verschieden. Aber innen haben alle ein Herz. Und das Herz macht, dass wir das Größte tun können, was es gibt - lieben. Und die Liebe macht, dass wir menschlich sein können. Und das ist ein Glück.“ (Christina Brudereck, Theologin und Schriftstellerin) So ein Eintreten gab und gibt es immer wieder im Lauf der Geschichte. Als 1939 Adolf Eichmann in seinem Berliner Büro Pfarrer Heinrich Grüber fragte: „Was kümmern Sie sich überhaupt um die Juden? Sie werden keinen Dank für diese Arbeit haben“, antwortete Grüber: „Sie kennen die Straße von Jerusalem nach Jericho! Auf dieser Straße lag einmal ein überfallener und ausgeplünderter Jude. Ein Mann, der durch Rasse und Religion von ihm getrennt war, ein Samariter, kam und half ihm. Der Herr, auf dessen Befehl ich alleine höre, sagt mir: Gehe hin und tue desgleichen.“ Mehr als 1000 Menschen jüdischer Herkunft verhalf Grüber zur Ausreise, vielen anderen wurde durch ihn im alltäglichen Leben geholfen. Grübers Hinweis auf die Erzählung Jesu vom barmherzigen Samariter und sein Handeln sagen mir: Ich soll / wir sollen nicht bei der Wachsamkeit / dem Hinschauen und dem Eintreten stehen bleiben. Es geht um mein / unser Tun für die, die unter die Räuber gefallen sind oder unter sie zu fallen drohen:

Um Interesse an ihren Lebensgeschichten und ihrem aktuellen Leben, an ihnen als Person. Und auch an dem, was sie mitbringen an Wissen, Kochrezepten, Einstellungen, Lebensfreude, … . Um Angebot von Unterstützung, Hilfe zur Selbsthilfe, ein offenes Ohr für ihre Einsamkeit, ihre Bedürfnisse, was ihnen gelungen ist und was sie freut, … . Ja, vielleicht ist das ein guter Impuls für den heutigen Gedenktag, wenn ich nicht bei Wachsamkeit / Hinschauen und Eintreten stehen bleibe, sondern Jesu Aufforderung ernst nehme: „Gehe hin und tue desgleichen.“

Pfarrer Martin Weinreich (Christuskirche Kempten)

Wort zum Sonntag in der Allgäuer Zeitung, 27./28. Januar 2024